Der Junge und das Rehkitz

(eine Weihnachtsgeschichte für meine Großeltern, der Anfang ist leider nicht mehr aufzufinden)

 

[.....] Der Bub ging weiter. Plötzlich sah er Bieber an einem Fluss, die an einem Stück Holz nagten. Als sie den Jungen sagen, schauten sie sich an und nagten dann weiter. Das Stück Holz nahm Gestalt an und der Bub wurde neugierig. Er setzte sich und als die Bieber fertig waren, war da kein Stück Holz mehr. Es war viel eher der Kopf des Buben. Die Bieber schoben den Kopf dem Buben zu, der erstaunt war. Dann aber kehrte das Böse in ihm wieder und er nahm seinen Holzkopf und schlug in an einen Stein. Das Holz zersplitterte und die Bieber wurden traurig und gingen. Der Bub lachte wieder. Der Waldfee wurde es langsam zu bunt, wollte aber noch nichts unternehmen. Der Bub kam an einen Baum, wo die verschiedensten Vögel saßen und den Bub sahen. Allesamt zwitscherten nun ein Lied für ihn. Erst gefiel es dem Jungen und er tanzte mit. Aber dann wurde er wieder ernst, warf mit Steinen nach den Vögeln. Die flogen erschrocken in alle Richtungen und beachteten nicht das fiese Lachen des Buben. Jetzt reichte es der Waldfee. Langsam sank sie vor dem Buben herab und sprach: "Die Hirsche und Rehe hast du verscheucht. Nie mehr wieder sollst du jemandem Angst einjagen! Des Biebers Werk hast du zerstört. Nie mehr wieder sollst du solche Kraft haben! Die Vögel hast du bei ihrem Gesang beworfen. Nie mehr wieder sollst du hören können! Wenn du aber jemanden vor der Angst beschützen kannst, wenn du die Kraft hast, etwas zu erbauen, wenn du wieder etwas hören kannst, sollst du erlöst sein!" Das hörte sich der Bub an und musste dann lachen. Er nahm die Fee nicht ernst. Die Fee aber erhob sich und verschwand. Dann sah er eine Ratte vorbeilaufen und wollte sie erschrecken. Die Ratte aber schaute ihn nur an und ging weiter. Das ärgerte den Buben und er wollte einen Stock nehmen und sie bewerfen. Den Stock aber konnte er keinen Zentimeter heben. Er war zu schwach. Nun bekam er es mit der Angst zu tun und dachte: "Ob die Fee wohl doch Recht hatte?" Das wollte er noch nicht recht glauben und klopfte an einen Baum. Er hielt sein Ohr dicht daneben, aber hörte nichts. Kein Klopfen, kein Rascheln der Blätter in den Bäumen, kein Fließen des Wassers im Fluss. Da sackte der Junge auf einen Stein und fing an, zu weinen. Er weinte lange und es wurde Abend. Dann überlegte der Junge: "Was hat die Fee gesagt? Was muss ich noch einmal machen?" Es fiel ihm wieder ein. "Wenn du aber jemanden vor der Angst beschützen kannst, wenn du die Kraft hast, etwas zu erbauen, wenn du wieder etwas hören kann, sollst du erlöst sein!" Der Bube musste also nur jemanden beschützen, etwas erbauen und hören können. "Dann bin ich erlöst", dachte er sich. Er wollte mit dem Beschützen beginnen. Nur gab es hier weit und breit keinen, den er vor der Angst beschützen könnte. Doch plötzlich sah er etwas hinter einem Gebüsch. Er schlich näher und sah ein Rehkitz. Er kannte es. Es war das Kind des Rehs und des Hirschen, den er verscheucht hatte. Jetzt schämte er sich. Er wollte wissen, wovor es sich fürchtete. Als der Bub näher kam, wich das Rehkitz zurück. Jetzt verstand er. Es hatte vor ihm Angst. Der Bub setzte sich auf den Boden und beobachtete das kleine Rehkitz. Erst schaute es ängstlich. Dann aber wurde sein Blick neugierig. Es kam aber nicht näher. Der Bub legte sich auf den Boden. Ihm fröstelte, denn es war schon dunkel und der Mond ging gerade auf. Er schaute noch eine Weile das Rehkitz an und hoffte, es komme näher, aber dann wurde er müde und schlief ein. Das Rehkitz sah den reglos daliegenden Jungen an und kam langsam näher. Es dauerte eine Weile, aber dann legte es sich doch in die Armbeuge des Jungen und schlief auch ein. Am nächsten Morgen wachte der Bub früh auf. Er merkte sofort, dass das Rehkitz an ihn gekuschelt noch schlief. Er dachte nach. "Dann hat es also keine Angst mehr gehabt!" sagte er sich und ihm wurde bewusst, dass er das Rehkitz vor der Angst sozusagen in seinem Arm geschützt hat. Und somit war die erste Aufgabe vollbracht. Danach wollte er etwas erbauen. Aber was? Der Bub stieg langsam auf und achtete darauf, das Rehkitz weiterschlafen zu lassen. Er lächelte. Es sah so friedlich und klein aus. Aber im nächsten Moment wachte auch das Rehkitz auf. Der Junge lachte, als das Kleine um seine Beine strich. Aber jetzt wollte er etwas erbauen. Er ging ein wenig, aber das Rehkitz folgte ihm. "Kann es mitkommen oder muss es bleiben?", überlegte der Bub, "nein, es muss mitkommen, sonst sorgt sich ja keiner um das Kleine." Also lief er weiter, gefolgt vom Rehkitz auf der Suche, etwas zu finden, dass er erbauen konnte. Sie waren schon eine Weile gelaufen, als ein Stein dort am Wegrand lag. Der Junge hob ihn auf und dachte: "Wunderschön!" Einen Moment später stutzte er. Hatte er gerade den Stein aufgehoben? Er blickte auf den Stein in seiner Hand und überlegte, was er erbaut haben könnte. Da blickte ihn das Rehkitz neugierig an und einen Moment später sprang es an dem Jungen hoch. Jetzt wusste er es. Er hatte die Freundschaft zwischen ihm und dem Rehkitz erbaut. "Juhu!" rief der Junge und sprang in die Luft. Er freute sich. Jetzt musste er nur noch hören können und er war erlöst. Aber vorher umarmte der Junge das Rehkitz, seinen Gefährten, das ihm geholfen hatte. Er schmiegte sich an es ran und hörte das Herz des Rehkitzes "Bumm, Bumm" machen. Plötzlich schaute er das Rehkitz an und prüfte gleich noch einmal, ob er sich nicht verhört hatte. Und wirklich! Er hörte es ganz deutlich! Er konnte wieder hören! Überglücklich sprang er auf und rannte geradeaus. Das Rehkitz folgte ihm an einen See und zusammen sprangen sie in das Wasser. Gleichdarauf kamen ein paar Vögel angeflogen und sangen für den Buben ein Lied. Ja, er hörte es! Er hörte den Herzschlag seines Freundes, das Plätschern des Wassers und den Gesang der Vögel! Plötzlich sank die Fee herab und sagte: "Wunderbar! Du hast das Rehkitz vor der Angst beschützt, die Freundschaft zwischen euch erbaut und seinen Herzschlag gehört. Hiermit sollst du erlöst und glücklich sein!" Der Junge strahlte und sagte: "Gut, dann bleibe ich hier und erbaue mir ein Haus, beschütze die Waldtiere und höre das Gezwitscher der Vögel! Und das Rehkitz bleibt bei mir!" "Wenn du es so willst, soll es so sein!" antwortete die Fee und verschwand. Die Zeit verging und der Bub und das Rehkitz wuchsen heran und lebten glücklich bis an ihr Ende...

 

(Datum unbekannt; Marie Michelle Maerten)


Der Mann im Fenster

 

Es war dunkel, kalt und spät. Trotzdem waren viele Menschen noch unterwegs. Sie war froh, dass sie einen Platz in der S-Bahn ergattert hatte. Gedankenverloren sah sie nach draußen. Die dunkle Masse wurde vereinzelt von Straßenlaternen oder erleuchteten Fenster durchbrochen, doch hauptsächlich zog die Stadt unerkennbar an ihr vorbei. Plötzlich fiel ihr Blick auf die oberen Etagen eines Hochhauses. In einem Raum war noch Licht. Das Dunkel der Nacht wirkte wie eine Zensur für alles, was dieses Fenster umgab. In einem Moment sah sie draußen noch ein Lichtermeer, im nächsten konnte sie sich auf nichts mehr konzentrieren als auf dieses einzelne erleuchtete Fenster. An diesem Fenster stand ein Mann und hatte die Hände in die Hüften gestämmt. Warum sie das auf die Ferne so gut erkennen konnte, wusste sie auch nicht, doch sie war wie verzaubert von diesem Moment. "Was wohl seine Geschichte ist?", fragte sie sich.

 

Herr Raven war ein äußerst unscheinbarer Mann. Er war klein, ein wenig rundlich und auf seinem Kopf war bereits die Andeutung einer Glatze zu erkennen. Die meiste seiner Arbeitszeit verbrachte er im Büro. Sein Mittagessen aß er immer allein im Pausenraum. Wenn man seine Kollegen gefragt hätte, warum sie sich nicht zu ihm setzten, hätte es niemand so recht gewusst. Überhaupt wussten sie nicht viel über ihn. Vor allem nicht, wie er zu seiner recht hohen Position in der Firma gekommen ist. Die wenigsten seiner Kollegen hatten ihn je reden hören. Und die, die schon einmal gezwungen waren, mit ihm zu reden, würden es nie wieder tun. Auch hier hätten sie nicht sagen können, wieso, wären sie gefragt worden. Doch es gab eine Person, die die Antwort auf all diese Fragen wusste: Herr Leider. Er war der Chef dieses Unternehmens und Herr Raven völlig untergeben. Als draußen in der Ferne eine S-Bahn vorbeifuhr, kniete Herr Leider gerade mit gefalteten Händen vor Herr Ravens Schreibtisch. Er zitterte fürchterlich und hätte er nach diesen 3 Höllen-Monaten noch eine Träne in seinen Tränensäcken übrig gehabt, er hätte geweint.

"Mein lieber Herr Leider", fing Herr Raven an. Seine Stimme war so tief, dass man das Gefühl hatte, ein Gewitter würde anrollen. Herr Leider wimmerte.

"Ich hatte wirklich Spaß in den letzten drei Monaten. So ruhig und entspannt war mein Alltag schon lange nicht mehr. Ich möchte Ihnen wirklich für all diese Möglichkeiten danken. Sie haben mir wirklich weitergeholfen. Jedoch sind mir in letzter Zeit ein paar Unregelmäßigkeiten in der Ware aufgefallen." Bei diesen Worten drehte sich Herr Raven um und ging mit verschränkten Armen zwei Schritte auf Herr Leider zu. Herr Leider übergab sich auf den Teppichboden. Währenddessen hielt er immer noch seine Hände ineinander verschränkt. Das fiel Herr Raven auf. Er seufzte.

"Ich versteh das nicht. Was soll das jetzt noch bringen? Meinst du wirklich, er hilft dir jetzt noch, nachdem du solchen Scheiß abgezogen hast?" Jetzt flennte Herr Leider doch. Tränen flossen ihm in Strömen über die Wangen und befleckten den eh schon schmutzigen Teppich.

"Ok, ok. Ist ja schon gut. Hör auf zu heulen! Man ey, wirklich jedes verdammte Mal!!!"

Herr Raven ging vor Herr Leider in die Hocke, sprang jedoch sofort wieder auf, als dieser ein weiteres Mal auf den Boden kotzte.

"Verdammte scheiße!" rief Herr Raven. "Jetzt reichts mir aber!"

Der Schrei ließ alles aus Glas zerplatzen: erst die Glühbirnen, an deren Stelle gleißende Feuerbälle traten. Dann die Fenster, die mit einem ohrenbetäubenden Klirren zerbarsten. Der eisige Nachtwind tobte plötzlich durch den ganzen Raum und zerrte an Hemd und Haaren beider Männer.

"Was erlaubst du dir eigentlich, mich zu hintergehen?" schrie Herr Raven über den Wind hinweg. "Ich habe dir so viel gegeben! Eine erfolgreiche Karriere, eine heiße Braut, finanzielle Sicherheit, ewiges Leben! Ich dachte, ihr Menschen würdet alles tun für ewiges Leben!" Herr Raven hob beschwichtigend die Hände. "Ich will ja nicht sagen, dass du nichts getan hast", sagte er in normaler Lautstärke, sodass der verzweifelte Herr Leider nichts davon hörte. Dann schrie er wieder: "Aber du hast nicht das getan, wonach ich dich gebeten habe! Jetzt kannst du dir dein ewiges Leben abschminken! Ich sagte jeden Tag 5 Menschenopfer! Was ist daran nicht zu verstehen? Warum hast du dieses Weib verschont, hä? Sag's mir!" Herr Raven packte Herr Leider an den Haaren und zog seinen Kopf nach oben. Herr Leider zitterte und brauchte eine Weile, um seinen Blick auf Herr Raven zu fokusieren. Er schluckte die aufkommende Kotze herunter und keuchte: "Ich liebe sie."

"Bullshit!" schrie Herr Raven voller Wut, packte Herr Leider am Kragen und warf ihn aus dem zerbarsten Fenster. "Ihr Menschen und eure Liebe! Ihr seid so schwach, so dumm, so--- oh", sagte Herr Raven, als er realisierte, was er gerade getan hatte. Er seufzte schwer. Dann zuckte er mit den Schultern und sagte: "Tja. Kann ich jetzt auch nicht mehr ändern."

 

So überlegte sie und erfand eine Geschichte für den Mann im Fenster.

 

(5.7.18; Marie Michelle Maerten)


The Butcher

(eine von Daredevil inspirierte Fanfiction für Lizzy)

 

Foggy betrat Matts Wohnung, das schlimmste erwartend. Das würde er ihm immer nachtragen, dass er seinen besten Freund so sehen musste. Niemand hatte solch einen schaurigen Anblick verdient.

"Matt?" fragte er daher zaghaft, bevor er um die Ecke bog.

"Ich lebe noch, Foggy", kam es zurück, "aber nicht mehr lange, wenn du dich nicht sofort im Schlafzimmer versteckst!"

Foggy erblickte Matt in seinem Daredevil-Anzug, eng an die Küchenwand gepresst, so als würde er jemandem auflauern.

"Matt, was ist hier eigentlich los? Ich wollte dir nur die Unterlagen unseres neuen Falls vorbeibringen - weil du schon wieder eine Besprechung verpasst hast - und dann sehe ich, dass deine Tür nur angelehnt ist."

"Wie du siehst, hat das einen Grund", antwortete Matt und zeigte auf seinen Anzug. "Es tut mir leid, dass ich wieder nicht dabei war, aber das hier ist weitaus größer und wichtiger als eine Frau gegen einen Mietshai zu verteidigen."

"Woher weißt du-?"

"Du hast im Hausflur telefoniert."

Foggy nickte wissend. "Schon klar."

Plötzlich hob Matt einen Finger an seinen Mund und bedeutete Foggy mit wedelnder Hand, sich zu verstecken. Sie kommen, dachte Foggy und verschwand ohne Widerrede hinter der Küchentheke.

Das nächste, das er hörte, war ein röchelndes "Arghs", auf das ein dumpfes "wump" und mehrere "uffs" folgten. Einige davon kamen von Daredevil. Sie sind in der Überzahl, dachte Foggy, aber das sind sie immer, da Daredevil eine Einmannarmee ist. Wenn ich ihm doch nur helfen könnte...

Im nächsten Moment krachte ein Kämpfer in schwarz schwungvoll auf die Theke. Foggy zuckte erschrocken zusammen, doch als er merkte, dass der Feind bewusstlos war, wich seine Angst soweit, dass er zumindest den Kopf über die Thekenkante strecken konnte. Ein maskierter Kämpfer mit langem Samuraischwert schwang sich gerade auf Daredevil, während ein anderer sich an dessen Bauchgegend heranpreschte. Daredevil reagierte reflexartig schnell und bückte sich gerade so, dass der linke Angreifer über seine Schulter abrollte und auf seinen Komplizen fiel. Ein stetiges Tropfen lenkte Foggys Aufmerksamkeit wieder auf den bewusstlosen Kämpfer vor ihn, der sich, wie sich herausstellte, eine übel aussehende Wunde am Oberarm zugeführt hatte, als er in die Gläser in der Spüle krachte und diese unter seinem Gewicht zerbrachen. Und jetzt tropfte sein Blut schon seit einer Weile auf Foggys Handrücken. Foggy musste sich stark zusammenreißen, um nicht sofort loszuschreien. Apropos losschreien: Im nächsten Augenblick ließ Daredevil einen erstickten Schrei aus seiner Kehle weichen... Er war gegen den Couchtisch geschleudert worden und Foggy realisierte, dass sein Freund einen kleinen Moment zu lang brauchen würde, um sich aufzurappeln und dem Schwert seines Gegners auszuweichen. Ohne groß nachzudenken schmierte sich Foggy das Blut auf seiner Hand auch in sein Gesicht - in der Hoffnung, dadurch furchterregender zu wirken - und sprang auf seine Füße. Auf halbem Weg bemerkte sein Unterbewusstsein das Fleischermesser in Matts Messerblock. Seine Hand griff danach, bevor sein Bewusstsein protestieren konnte und als Foggy noch dabei war, das Blut auf seinem Gesicht zu realisieren und zu verarbeiten, schrie er auch schon voller Inbrunst in die Richtung des Feindes. Foggy wusste nicht, was daran funktionieren sollte, aber es funktionierte. Der mysteriöse Ninja, wie Foggy ihn im Nachhinein nennen würde, drehte sich überrascht um und schenkte Daredevil dadurch Zeit, auf die Beine zu kommen und ihm mit einem Ellbogen in dem Hinterkopf zu schlagen, sodass auch der letzte Gegner bewusstlos zu Boden fiel.

Im nächsten Moment hörte man nichts weiter als das tiefe Atmen Daredevils und das stetige Tropfen des Blutes vom Verwunderten, der immer noch in der Spüle lag.

"Foggy..."

Matt lauschte. Dann hörte er, wie das Messer aus Foggys Hand auf den Küchenboden fiel und Foggy sich hektisch atmend an die Spüle lehnte, woraufhin er kurz würgte, ein paar Schritte in das Wohnzimmer machte und sich vornüber auf das Sofa fallen ließ. Matt konnte seinen beschleunigten Herzschlag spüren und machte sich ernsthaft Sorgen. Plötzlich fing Foggy an, zu lachen.

"Hahaha, weißt du noch, wie meine Mutter sich immer gewünscht hatte, dass ich Metzger werde, weil ich die passende Statur dafür hätte?"

Jetzt musste auch Matt schmunzeln und all die Anspannung verließ seinen Körper. "Ja, Foggy. Ich erinnere mich."

"Da hatte sie wohl Recht!" rief Foggy und lachte wieder.

 

(11.04.17; Marie Michelle Maerten)


Die Beauftragten der Zeit

(Eine Geschichte, die ich zum Vorlesewettbewerb in der 9. oder 10. Klasse schrieb.)

 

„Halt! Stehen bleiben!“ hatten sie gerufen. Sie konnte vieles, aber schnell rennen war noch nie ihre Stärke gewesen. Und so wurde sie gefasst, niedergerungen und mit einem einschläfernden Geruch bewusstlos gemacht.

 

Als sie wieder zu sich kam, war sie an einen Stuhl gefesselt und sie sah drei Männer. Zwei von ihnen waren riesige Muskelpakete und deren ganzer Körper war mit Tattoos versehen. Irgendwo in diesem Wirrwarr  steckte bestimmt noch ein Herztattoo mit der Aufschrift „MOM“, dachte sie sich. In der Mitte, genau vor ihr, stand ein dürrer Mann mit Schnauzer. Er hatte einen grauen Anzug an. Und sah nicht gerade begeistert aus. „Du hast Bruno getötet, Lady! Und wer einen meiner Männer tötet, kommt nicht ungestraft davon. Aber da du ein Weib bist, hast du das Recht, mir eine Erklärung zu bieten. Also, sag, wer bist du?!“ Sie lächelte und fragte: „Wollen Sie die Wahrheit wissen oder soll ich lügen?“ Einer der beiden Muttersöhnchen kam ruckartig auf sie zu und krallte sich ihren Kragen. „Mach keine Scherze, Mädel!“ fauchte er sie an. Wie sie vermutet hatte, prahlte auf seinem rechten Oberarm das besagte „MOM“-Tattoo. Aber nun begann sie, ernst zu werden. „Gut. Also dann… Mein Name ist Shayen Lucy Tomprich und ich bin Beauftragte der Zeit. Das bedeutet, dass ich andere Zeitreisende in der Zeit hinterher reise und sie davon abhalte, die Geschichte der Menschheit zu verändern. Und ich habe Bruno nicht getötet. Ich habe ihn aus der Zeit verbannt, ihn in seine normale Zeit zurückgeschickt und ihm die Gabe, zeitreisen zu können genommen. Das ist alles, was ich ihnen sagen kann“, sagte sie in ernstem und ruhigem Ton. Der Mann mit dem Schnauzbart starrte sie an. Sein linkes Auge zuckte, seine Hände ballte er zu Fäusten, dass die Knöchel nur so hervor traten und er wippte aufgedreht mit dem Fuß. „Wie bitte?“ fragte er. „Du willst mich wohl verscheißern, Lady! Mit so einem Typen wie mir zu scherzen, kann heutzutage tödlich enden.“ Lucy lachte. „Wir sind im Jahre 1902! Natürlich kann das tödlich enden. Und deshalb: Auf ins Jahr 2013!“ rief sie und verschwand mit einem grellen Lichtblitz, der, als er sich legte, nur einen Stuhl und ein loses Seil hinterließ.

 

Daibo war ziemlich sauer, als Lucy in der Zentrale eintraf. „Bist du verrückt geworden? Das hätte in die Hose gehen können. Du hättest getötet werden können, du hättest die Geschichte verändern können, dieser Mann hätte alles, was du ihm erzählt hast und was eigentlich geheim ist, ausplaudern können!“ „Hätte, hätte, Wienerkette!“ murmelte Lucy. Dann fügte sie hinzu: „Es tut mir leid, Chef. Ich werd versuchen es nie wieder zu machen…“ „Hör auf, mich Chef zu nennen“, sagte Daibo, „ich bin dein Vorgesetzter, mehr nicht.“ Lucy schmunzelte ihn an. „Ein Vorgesetzter ist…“ „…ein Chef. Ja, ich weiß, Lucy. Trotzdem hast du das zu lassen!“ Lucy sagte: „Geht klar, Klassenkamerad!“ und verließ trällernd die Zentrale. Ach Lucy, dachte Daibo. Ein schlankes, für ihr Alter großes Mädchen mit langen, glatten, brünetten Haaren und einem aufgeschlossenem Gesicht und einer frechen, aber immer noch liebevollen Art.

 

Ach Daibo, dachte derweil Lucy. Ein kleiner, netter Junge mit feuerrotem Wuschelkopf und einer kreisrunden Brille. Ihn ihrer gemeinsamen Klasse wurde er als zweiter Lehrer angesehen, weil er fast genauso viel wusste und jedem gerne half. Er war ein Jahr jünger als Lucy und doch wurde er ihr Vorgesetzter und gleichzeitig Vertrauter, was das Thema Zeitreisen anging, da sonst niemand etwas darüber erfahren durfte. „Hi, Lucy.“ kam es plötzlich hinter ihrem Rücken. Unmerklich zuckte sie zusammen und mit einer schnellen Kopfbewegung drehte sie sich in Richtung des Geräusches. „Oh, hi, Vincent. Was machst du denn hier?“, fragte sie den großen Jungen mit blonder Schüttelfrisur und Augen, die immer lächelten. „Ich muss zum Training. Und du?“ „Ach, ich war grad bei Daibo“, sagte sie und fügte schnell hinzu: „Wegen den Mathehausaufgaben!“ Vincent lächelte. „Schon klar!“ Plötzlich klingelte Lucys Handy. Daibo war dran und wies sie auf eine neue Zeitreise hin. „Du musst sofort reisen. Paul Harford versucht, die Teleskoplinse von Galilei zu zerstören!“

 

 

 Lucy nickte knapp, legte auf und drehte um. „Lucy, wohin willst du?“ Ach ja, Vincent hatte sie völlig vergessen. „Ähm… Ich muss… Also, ich hab bei Daibo was vergessen. Tschau!“ stotterte sie kurz angebunden und verschwand in den abendlich beleuchteten Straßen.

 

Da lief sie. Zwar nicht schnell, aber gezielt. Vincent wusste nicht warum, ob aus Eifersucht oder Neugier, aber er folgte Lucy leise. Nach ein paar Metern bog sie in eine Gasse ab und Vincent sah, wie sie kerzengerade einfach nur da stand. Was war mit ihr los? fragte er sich und näherte sich ihr besorgt. Doch sobald er ihr eine Hand auf die Schulter legte, durchfuhr ihn ein Ruck und dann war alles weiß. Er spürte, wie er denn Boden unter den Füßen verlor und jegliches Geräusch erlosch. Nur sein eigener Atem war zu hören. Durch diese plötzlichen Ereignisse, verlor er den Kontakt zu Lucy und nun fühlte er sich allein. Er schaffte es nicht, die Augen zu öffnen. Aber er traute sich auch nicht. Nach einer turbulenten Minute, in der es Vincent vorkam, durch einen Tornado geschleudert worden zu sein, fiel er auf einen harten und nassen Untergrund. Das grelle Licht und die erdrückende Stille waren verschwunden. Sein Rücken schmerzte durch den Aufprall und er fühlte Kälte. Doch jetzt konnte er Hufgetrappel und Gemurmel von beschäftigten Menschen vernehmen. Langsam öffnete er die Augen und setzte sich auf… Und sah eine Welt, wie in einem Geschichtsbuch. Mehrere Pferdekutschen standen an der mit Kopfsteinpflaster und Schnee gefüllten Straße und Männer mit Zylindern und Frauen mit weiten Reifenröcken teilten sich den Gehweg. Vincent verlor völlig die Orientierung und stolperte fassungslos und fröstelnd durch die überfüllten Straßen. Und dann sah er es. Auf einer Zeitung, die ein kleiner Junge hochhielt, stand das heutige Datum: „9. Februar 1736“ 1700… 36… Vincent lachte auf, schüttelte sich kurz die Kälte vom Leib und fiel in Ohnmacht.

 

Als Lucy begann, ihren Körper aus der Zeit zu trennen, konnte sie hören, wie ihr jemand näher kam. Vincent! Das war nicht gut, dachte sie sich. Dann kam ein grelles Licht, dass sie in eine andere Zeit katapultierte, doch plötzlich fühlte sie eine Hand auf ihrer Schulter. Nein. Sie durfte sich nicht ablenken lassen und so konzentrierte sie sich weiter auf das Datum, an dem sie landen wollte. Jedes Mal, wenn sie Zeit reiste, fühlte sie sich einsam, doch diesmal war es anders. Sie Berührung der Hand, die immer noch auf ihrer Schulter weilte, tat ihr gut. Bis sie plötzlich losließ und wieder ein Gefühl der Einsamkeit eintrat. Einen Moment später landete sie sicher auf festem venedischem Boden. Sie hatte einen Auftrag zu erfüllen.

 

„Paul Harford! Was hast du zu deiner Verteidigung zu sagen?“ schnauzte Daibo ihn daheim, im Jahr 2013, an. Paul saß auf einem Stuhl und hatte lässig die Arme verschränkt. Er sagte: „Ich lasse mich von einem Kind nicht verhören!“ „Abführen“, sagte Lucy zu den Beamten, die Paul zum Concilium Temporis, dem Rat der Zeit, bringen würden. Dann wandte sie sich an Daibo und schmunzelte: „Dir ist klar, dass er ein ganzes Stück älter ist als du?“ Daibo lockerte seine verkrampfte Haltung nicht. „Mmmmmhja, schon. Aber ich bin immerhin sein Vorgesetzter!“ „Nicht mehr“, ergänzte Lucy und klopfte Daibo sanft auf die Schulter. Plötzlich gab der Computer einen piependen, warnenden Ton von sich. Daibo war sofort in seinem Element. Blitzartig schnellte er an den Bildschirm. Für eine kurze Zeit war er wie versteinert. Dann kam ein knappes, aber deutliches „O-oh…“ „O-oh? O-oh“, murmelte Lucy, „das hört sich nicht gut an!“ „Lucy, hast du bei deiner Zeitreise irgendwie mitbekommen, dass du jemanden ausversehen mit durch die Zeit hast reisen lassen?“ „Schoooon möglich?“ versuchte Lucy Daibo schmerzhaft grinsend abzureagieren. „Lucy!“ schrie Daibo und eine Welle voller Vorwürfe überrollte sie. Nach geraumer Zeit schwächte Daibos Wut ab. Lucy und er saßen nebeneinander und starrten in die Leere. „Daibo?“ fragte Lucy. „Hm?“ erwiderte Daibo. „Wie sollen wir Vincent wiederfinden?“ Daibo holte tief Luft und erhob sich langsam. Er wirkte wie ein alter, gestresster Mann. Er antwortete: „Geh in die Bibliothek und lies dich durch die Geschichtsabteilung. „Hääää? Bibliothek? Lesen? Geschichte?“ Schrecken lag auf Lucys Gesicht. „D-d-das verlangst du doch jetzt nicht echt von mir, oder? Oooh, bitte hilf mir!“ Daibo drehte sich ruhig zu ihr um. Er lächelte und schüttelte langsam den Kopf. „Na los, Lucy. Die Bibliothek schließt in einer halben Stunde.“

 

Rums! Lucy warf 13 riesige Bücher auf ihr Bett. „Na, du bist aber wissbegierig“, hatte die Frau an der Theke geschmunzelt. Lucy hatte nur gelächelt und ein „Ja“ aus ihren zusammengebissenen Zähnen gepresst. Lucy richtete ihre Schreibtischlampe in eine angebrachte Position und krallte sich ihren Naschvorrat. Gleichzeitig öffnete sie einen Schokoriegel und das erste Geschichtsbuch.

Lucy durchlebte innerhalb von zwei Stunden viele Jahrtausende und viele Geschmacksrichtungen von Schokolade und Gummibärchen. Sie wurde müde und immer unaufmerksamer beim Lesen, als ihr plötzlich ein Abschnitt ins Auge stach. „Ja!“ schrie sie und schmiss ihren 15. Schokoriegel durch ihr Zimmer. In Windeseile schnappte sie sich alles Nötige und entband ihre Seele der Zeit. Kurz darauf betrat ihr kleiner Bruder schlaftrunken das Zimmer. „Lucy?“ fragte er, „warum schreist du so?“ Als er jedoch nur ein leeres Zimmer vorfand, sah er seine Chance. Er krabbelte auf ihr Bett und schnappte sich so viele Süßigkeiten, wie seine kleinen Hände tragen konnten. Dann fiel auch ihm der Abschnitt auf und er las das, was er schon verstand. „Maria Theresia… Ball… Vincent…“ Ball spielen macht Spaß, dachte er sich und verschwand mit seiner Beute wieder in seinem Zimmer.

 

Als Lucy am 12. Februar 1736 in Wien ankam, war es Abend. Und kalt. Sie zog sich ihren Mantel über, schlug die Kapuze ins Gesicht und folgte wohlgekleideten Herren und Damen zum Hochzeitsball von Maria Theresia und Franz Stephan von Lothringen. „He du!“ rief da plötzlich eine kindliche Stimme hinter ihr. Mit Bedacht drehte sich Lucy in diese Richtung. Ein kleiner Junge mit zerrissener Kleidung und schelmischen schwarzen Löckchen kam auf sie zu. Braune Knopfaugen, aus denen er sie ansah, lagen in seinem Gesicht, eng an seiner Stupsnase. Seine Wangen und seine Nase waren rot und aus seinem kleinen Mund stiegen Wölkchen auf. Ein kleiner Abenteurer, dachte Lucy. „Ist dein Mantel warm?“, fragte der Kleine unverblümt. „J-ja“, stotterte Lucy. „Ist ja toll!“, grinste der Junge, „und wie heißt du?“ „Mein Name ist Lucy“, lächelte sie zurück. „Schön, dich kennen zu lernen, Luciande!“ „Nein, nein. Ich heiße Lucy. Nicht Luciande.“ stutzte Lucy. „Haha! Ja, klar. Kein Problem, Luciande! Ich bin Constantin“, antwortete dieser. Lucy seufzte, bemerkte aber, dass eine Diskussion zu nichts führen würde. „Freut mich, Constanze.“ Beide lächelten sie und liefen weiter. Immer wieder sah Lucy, wie Constantin auf ihren Mantel starrte. Nach einer Weile nahm sie die eine Hälfte des Mantels und warf sie Constantin um. Der bedankte sich lächelnd und kuschelte sich an sie.

„Da vorne ist es!“ rief Constantin und zeigte mit seinem Finger auf ein leuchtendes, großes Gebäude. „Toll!“, rief Lucy und machte Anstalten, weiter zu gehen. „Hey, warte mal!“ hielt Constantin sie zurück. „Luciande, so geht man doch nicht auf einen Ball.“ Lucy schaute an sich herab. Sie trug eine helle Jeans und unter ihrem Mantel verbarg sich ein roter Pullover. „Ach“, sagte Lucy, „ich werd mich da schon irgendwie rein schleichen.“ „Wetten nicht?“, forderte Constantin sie heraus und lachte, als Lucy niedergeschlagen wieder auf ihn zukam. „Der Kerl wollte mich nicht durchlassen“, murmelte sie. „Na, zum Glück habe ich eine fabelhafte Idee!“, sagte Constantin und zog Lucy von der Menschenmenge fort.

 

„Bist du sicher, dass das klappt?“, flüsterte Lucy mit einem unguten Gefühl. „Na klar. Das hat es schon ganz oft“, erwiderte Constantin und setzte ein süßes Lächeln auf, als ein schlanker Herr in Anzug ihre Namen erfahren wollte, um sie den Gästen des Hochzeitballs zu verkünden.

Und da stand sie. Alle Blicken waren auf sie gerichtet. Sie hatte das Gefühl, dass niemand Constantin beachtete. Unmerklich sah sie sich in dem großen Saal um und suchte nach einem blonden, ihr bekannten Schopf, der plötzlich aus der Menge raus zu stechen schien. „Kommst du alleine klar?“, flüsterte sie Constantin ins Ohr. Als dieser nickte, schritt sie anmutig die Treppen hinunter. Immer noch lagen die meisten Blicke auf ihr und Lucy versuchte, ihr aufgesetztes Lächeln zu halten, bis sie unsicher vor Vincent stand, der ein schwarzes Jackett trug und mit weißen Handschuhen versehen war. Er trug ein Silbertablett, auf dem unzählige Champagnergläser ihren Platz fanden. „Hi“, sagte Lucy.

Und da stand sie. Alle Blicke waren auf sie gerichtet. Einschließlich seinem. Vincent schaute an ihr herab. Ihr hellblaues Kleid lag eng an ihrem schlanken Körper, bis es in Kniehöhe wie Wellen von ihr schlug. Die Ränder waren schwach mit Gold verziert und ihre Haare waren zu vielen Locken gedreht, die aus einem einfachen Dutt hingen. „Hi“, erwiderte Vincent. Er war immer noch sprachlos. „Guck nicht so“, murmelte Lucy, „das ist peinlich!“ Vincent sah sie an. „Nein. Das ist wunderschön.“ Lucy bekam rote Wangen und sagte: „Dankeschön.“  Nach einer Weile fragte er verblüfft: „Wie hast du mich gefunden?“  „Tja. Nach einer langen Standpauke von Daibo und einer Nacht voller Geschichtsbücher und Süßem, habe ich dann in einem Abschnitt deinen Namen gelesen und einfach nur gehofft, dass du es bist und nicht irgendein anderer Geschichtsheini namens Vincent.“ Vincent lachte und antwortete dann: „Danke, dass du mich gerettet hast.“ Lucy winkte ab und erwiderte: „Gerettet? Ich bitte dich! Das war doch das Mindeste. Aber erzähl, wie erging es dir hier?“ „Nun ja, nachdem ich vor Schreck in Ohnmacht gefallen war, hatte mich ein Diener, der im Dienste Maria Theresias stand, aufgelesen und gesund gepflegt. Ihm verdanke ich, dass ich nun einen einigermaßen plausiblen Job als Diener habe und nicht irgendwo auf der Straße hocke.“ Lucy nickte und sagte: „Das freut mich.“ Dann erklang ein Gong und  kurze Zeit später spielten Geigen, Klarinetten und Posaunen ein Lied. Jeder um sie herum suchte sich einen Partner und begann zu tanzen und plötzlich waren Lucy und Vincent umzingelt von tanzenden Paaren. Vincent gelang es, das Tablett mit den Gläsern an den Rand des Geschehens zu manövrieren. Dann kniete er sich vor Lucy hin und fragte: „Gönnen Sie mir diesen Tanz?“ Lucy stutzte und nickte unsicher. Bald darauf tanzten beide eng umschlungen und nichts mehr registrierend. Als die Musik stoppte, verbeugten sich die Männer vor den Damen und das allgemeine Tuscheln setzte wieder ein. Vincent und Lucy standen noch eine Weile, Arm in Arm, da, als Vincent Lucys Kopf in seine Hände nahm. Beide sahen sich tief in die Augen und Vincent fragte: „Darf ich?“ Lucy nickte und schloss ihre Augen. Langsam kamen sie sich näher. Es kribbelte in Lucys Bauch und plötzlich lagen seine Lippen auf ihren. So standen sie eine Ewigkeit und es hätte ruhig noch eine weitere Ewigkeit so bleiben können, fanden sie, doch plötzlich rief ein alter Herr: „Dieb! Dieb!“ und gleichzeitig schrie eine Dame: „Verrat! Verrat!“ und eine Sekunde später begann das reinste Chaos. Riesige Mengen rannten Constantin hinterher und andere Mengen versuchten, dem Flüchtling auszuweichen. Wieder andere kamen auf Vincent zu und schmissen sich auf ihn. Und Lucy stand einfach nur da. Um ihr war der Teufel los, doch sie stand einfach nur da. Von diesem Moment an setzte ihre Erinnerung aus.

 

Diese meldete sich wieder, als Lucy sich, nun in Jeans und Pullover gekleidet, auf einem Marktplatz befand, umringt von einer neugierigen Menschenmenge, die gemeinsam auf zwei Guillotinen starrte. Eine Guillotine war das Gerät, mit dem mit einem Messer der Kopf eines welchen, der ihn hinhalten musste, abgehackt wurde. Das wusste Lucy dank dem Geschichtsunterricht. Na, halleluja, dachte sie sich, doch als sie Constantin und Vincent dahinter stehen sah, dachte sie gar nichts mehr. Ihr Herz begann zu rasen, genauso wie sie, als sie sich nach vorne kämpfte. „Stopp!“ schrie sie, aber niemand hörte sie. „Stopp!“ schrie sie wieder und ihre Stimme versagte. Wie in Zeitlupe sah Lucy, wie Constantin und Vincent nach vorne geschubst wurden. Beide legten ihre Köpfe in die Öffnung, das Messer glänzte gefährlich. Constantin blickte auf und sah Lucy direkt in die Augen, die sich langsam mit Tränen füllten. Alles um sie herum verschwamm. Sie sah, wie beide Messer zur selben Zeit herunterfielen. Sie näherten sich immer weiter den Köpfen ihrer beiden Freunde. Kurz bevor das Messer Constantin den Kopf abschlug, zwinkerte dieser Lucy zu und plötzlich blitzte ein grelles Licht auf, dass alle dazu brachte, ihre Augen zu schließen. Lucy tat ihnen nach und als sie sie wieder öffnete, schloss und öffnete sie sie wieder, weil sie ihnen nicht mehr traute. Da, wo vorher Constantin und Vincent hockten, da, wo ihre Köpfe nun liegen sollten, da war nichts. Alle Menschen um sie herum schauten sich kurz um und gingen dann alle ihrer Wege. Was? War das etwa…? Lucy traute sich nicht einmal, es zu denken. Und dann rannte sie. Sie rannte so schnell, wie sie noch nie gerannt war und ihre Gedanken überschlugen sich. Konnte es sein, dass Constantin sich und Vincent durch die Zeit katapultierte und gleichzeitig die Erinnerung an diesen Moment bei allen umstehenden Menschen, die keine Beauftragten der Zeit waren, löschte? Das wäre ja… Lucy wusste nicht, was sie darüber denken sollte. Sie wollte einfach nur sehen, wie Vincent und Constantin vor ihr standen. In einer dunklen Gasse löste sie ihre Seel aus der Zeit und erlebte die rasanteste Reise ihres Lebens.

 

 

1736 begann sie zu rennen und rannte 2013 immer noch. Sie rannte aus ihrem Zimmer die Treppe herunter, bemerkte noch nicht einmal, dass ihre ganzen Süßigkeiten verschwunden waren. Sie rannte in die Küche, schnappte ihre Schulsachen. Sie rannte auf die Straße, rannte den Gehweg entlang, rannte fast ein älteres Pärchen um. Sie rannte über den Zebrastreifen, sie rannte durch den Park, sie lief über Wasser. Nein, letzteres kam ihr nur so vor. Sie rannte über die rote Ampel, rannte durch alle Schüler ihrer Schule. Sie rannte durch die Flure, sie rannte die Treppe herauf, sie rannte ihren Mathelehrer um und rief ihm zu, dass sie die Hausaufgabe nicht habe. Sie rannte in ihren Klassenraum, sie rannte über Mappen, Stühle und Tische, sie rannte durch die sich unterhaltenden Klassenkameraden, sie rannte in die Arme von Vincent. „Hi“, sagte er und gab ihr einen Kuss. „Hi“, erwiderte Lucy und ließ ihn nicht mehr los. „Du bist nicht tot.“ seufzte sie. „Natürlich ist er nicht tot“, protestierte eine helle Stimme hinter ihr. Lucy drehte sich um und schrie, als sie einen kleinen Jungen mit bekanntem Gesicht sah. „Constanze! Was machst du denn hier?“ rief sie. „Mh. Wo fang ich denn da am besten an? Nachdem ich unmerklich Vincent am Arm berührt hatte, dir zuzwinkerte und uns vorm sicheren Tod bewahrte, reisten wir zwei Jahre in die Zukunft, ins Jahr 1738. Da haben Vincent und ich uns erst einmal besser kennengelernt und ausgetauscht. Ich erzählte ihm, dass ich auch ein Beauftragter der Zeit war, aber nie wusste, wie das denn nun funktionierte. Vincent erklärte, dass man durch Berührung mit befördert wird und ich wahrscheinlich durch das Adrenalin reisen konnte. Dann bin ich mit ihm in euer Heimatjahr 2013 gereist und als ich merkte, wie warm es bei euch ist, bin ich geblieben und als Vincent mir sagte, dass man hier auch in die Schule müsse, wollte ich gar nicht mehr weg!“ erzählte Constantin. Lucy schnaubte: „Glaub mir, diese Einstellung ändert sich. Wo willst du denn jetzt unterkommen?“ fügte sie neugierig hinzu. Constantin antwortete: „Nachdem Vincent Daibo von mir erzählte, willigte dieser ein, dass ich erst einmal im Hauptquartier wohnen durfte. Und was es da alles gibt! Sprechende und sich bewegende Bilder, silberne Kästen, aus denen Brot springt! Fabelhaft!“ schwärmte er, „Ja, und jetzt bin ich hier.“ Lucy lachte und umarmte ihn herzlich. „Willkommen im Jahr 2013… Und was hast du jetzt vor?“ „Naja“, antwortete Constantin, „ich bin neu an der Schule. Könnt ihr mich rumführen?“ „Das dauert aber eine ganze Weile“, erwiderte Vincent. Constantin lachte. „Keine Sorge, ich hab Zeit.“

 

(12.6.13; Marie Michelle Maerten)


Neu

Neu. Neu bedeutet eigentlich immer gut. Aber als ich im Foyer meiner neuen Schule stand, wusste ich nicht mehr so recht, ob das eigentlich eine gute Entscheidung war. Der Unterricht hatte noch nicht begonnen, Menschenströme kamen an mir vorbei und ihre Stimmen klingelten mir schmerzhaft in den Ohren. Obwohl so viele Menschen um mich herum standen, fühlte ich mich doch allein. Plötzlich war ich sehr unsicher und starrte auf meine Füße. "Was, wenn sie mich nicht mögen?", fragte ich mich. "Was, wenn ihnen mein Stil nicht gefällt oder sie meine Hobbies komisch finden?" Ich zog immer weiter die Schultern hoch und versuchte, mich so klein und unauffällig wie nur möglich zu machen. Das klappte anscheinend nicht besonders gut, denn auf einmal kam mir eine Lehrerin entgegen, die mich energisch zu sich winkte. "Hallo!" rief sie schon von weitem, wodurch sie von allen Seiten schief angeguckt wurde. Die Blicke der Schüler folgten ihr und als sie vor mir stehenblieb, ruhten mehrere Blicke auf mir. "Du bist sicher die Neue, stimmt's?" fragte sie mich voller Enthusiasmus. Noch bevor ich antworten konnte, legte sie einen Arm um meine Schultern und schob mich zwischen den Schülern hindurch. Alle hatten sie ein Grinsen auf dem Gesicht, manche fingen sogar an, zu tuscheln. "Oh nein, bitte nicht", dachte ich und starrte wieder auf den Boden, bis wir in einem Klassenraum ankamen und die Lehrerin mich enger an sich drückte, als sie sagte: "Kinder, aufgepasst! Wie ich schon angekündigt habe, habt ihr ab heute eine neue Mitschülerin in eurer Klasse. Bitte behandelt sie mit Respekt und nehmt sie freudig bei uns auf!" Sofort fingen die Schüler wieder an, ihre Köpfe zusammenzustecken und angeregt zu flüstern. "Na toll. Das geht ja gut los." "Keine Sorge", flüsterte mir die Lehrerin, von der ich immer noch nicht den Namen wusste, zu, "die Aufregung geht schneller vorbei als du denkst." Sie zeigte auf einen Platz genau in der Mitte des Raums. "Du kannst dich neben Clara setzen." Ich nickte nur und ging langsam durch die Gänge. Ich versuchte, den Blicken meiner Mitschüler auszuweichen und achtete, indem ich auf den Boden sah, darauf, nicht über die Mappen der anderen zu stolpern. "Das kann ich jetzt gar nicht gebrauchen!" Als ich an meinem Platz ankam, war der Stuhl neben meinem leer. "Ich frage mich, wo sie hingegangen ist. Bestimmt hat sie keine Lust auf mich", dachte ich und schluckte die Trauer herunter. Ich packte schweigend meine Sachen aus und wartete ungeduldig, bis die Klingel zum Unterricht läuten würde. In letzter Sekunde sprang Clara noch auf ihren Stuhl, dann begann meine neue Klassenlehrerin mit dem Unterricht. Clara schlug plötzlich ihr Buch auf. "Was? Buch? Ich habe kein Buch! Und hat sie was von Buch gesagt?" Ich bekam Panik und meine Blicke sprangen zwischen Clara, der Lehrerin und dem Buch hin und her. Dann schob sie ihr Buch in die Mitte des Tisches und zwinkerte mir zu. "Ich dachte mir schon, dass du noch kein Buch hast, deshalb hab ich meins aus dem Schließfach geholt." Ich starrte sie mit offenem Mund an. "Ach, und wunder dich nicht", fuhr sie fort, "sie vergisst immer, die Seiten anzusagen, deshalb schlagen wir am Anfang des Unterrichts eine Seite auf, von der wir denken, dass da das Thema behandelt wird. Und derjenige, der die Seite aufgeschlagen hat, die sie dann nach 10 Minuten ansagt, hat gewonnen. Das ist übrigens Frau Steil. Sie ist ein wenig verpeilt." Kichernd lauschte sie dem Unterricht. "- und um das Thema zu vertiefen, findet ihr Materialien auf der Seite 227." Ein Lachen und Gemurmel war in der hinteren Reihe zu hören. Als ich mich umdrehte, sah ich, wie jemand triumphierend auf seine aufgeschlagene Seite zeigte. Plötzlich musste ich grinsen. "Das ist Timo. Der gewinnt ständig, weil er das ganze Buch auswendig kann", erklärte mir Clara. Ein Junge in der vorderen Reihe drehte sich zu uns um und fragte: "Hast du mal ein Lineal?" Ich schaute Clara an. "Ich meine dich", sagte da der Junge, "Clara hat nie irgendwas bei." "He!" rief Clara, "sehr wohl. Sieh nur, hier hab ich-" Sie suchte kurz in ihrer Federtasche, fand aber nichts. "Ja gut, hast ja Recht", lachte sie verschmitzt. "Also?" Der Junge wendete sich wieder an mich. "Oh, eh, ja, klar. Hier, bitte!" "Danke!", sagte der Junge und bevor er sich wieder umdrehte, sagte er noch: "Nett, dich kennenzulernen." "Verstehe", dachte ich, "sie tuschelten so geheimnisvoll, weil auch sie aufgeregt waren! Eine neue Mitschülerin kriegt man nicht alle Tage!" Frau Steil hatte also Recht. Die Aufregung legt sich wirklich schnell. Ehe ich mich versah, war ich Teil dieser Klasse und kannte sogar schon ein paar Mitschüler. "Dankeschön", sagte ich zaghaft zu Clara, "dass du extra wegen mir dein Buch geholt hast." Clara winkte ab. "Kein Problem! Das macht man doch so unter Freunden, nicht wahr?" Ich entspannte mich und lehnte mich in meinem Stuhl zurück. Lachend nickte ich und wartete voller Freude auf die Pause, in der ich alle besser kennenlernen würde.

 

(18.12.15; Marie Michelle Maerten)


Good point

(Ich räumte gerade die Küche auf, als mir der erste kursive Paragraph ins Hirn ploppte. Ich wusste nicht, wie sie enden würde. Jetzt weiß ich es und bin verwundert.)

 

"After all we've been through?"

"You slaughtered my child!"

"Yeah, because you wanted me to!"

"... Good point."

Paul and Rebecca shook hands. They would make formidable cell mates.

 

"So? How are they?" asked Rob, a security guard. Bob, a security guard, entered the room after his walk through cell block P and answered: "Well... At first they argued about who gets to sleep on the top bunk bed, then they fought over who hates the other more and after a dramatic climax, Paul and Rebecca simply shook hands." Rob shook his head. "Those psychopaths... I'll never understand them." "Good thing you don't have to", said Bob, "your only job is to keep them locked up." At that exact moment the alarm went off. Another security guard rushed into the room and screamed: "Paul and Rebecca have fled their cell!" Rob looked at Bob, frightened. "Guess I lost my job."

 

"Stop farting, you dickhead", whispered Rebecca. "It's not my fault, you pig! I ate a burrito this morning. It was the only decent food on the menu and if you had eaten something too, your stomach wouldn't growl so loud!" answered Paul while robbing down the hole. "Good point", whispered Rebecca and fell silent.

 

Security guards were running and searching all over the place. When two guards rushed around a corner at the same time, they would often collide and then awkwardly apologize for 5 minutes. Fleeing was easy in this place. Rob and Bob were running and searching, too. At the next corner, they collided with their boss, Mr. B. The apologizing began: "Oh, I'm sorry, Mr B. I didn't know you would come around this corner a moment ago, I should've looked out more, but then, nobody knows if someone's right around the corner, that would be pretty weird, right?"  Rob said hastily. Mr B. replied: "Damn right. Wait, what are you still doing here? You're fired! It was your job to keep those two locked up!" Rob looked at his feet. "Yes, Sir." But then Bob stepped forward and said: "But, Mr B., that was also my job." Mr B. looked at him. "Good point. You're fired, too."

 

While Mr B. fired his employees, Paul and Rebecca sat right around the corner, hearts beating fast, trying to breath as quietly as possible. They were waiting for the corridor to clear. "We have to reach the third door on the left, you hear me? By all means!" Paul nodded, but then suddenly he stiffened. "I gotta sneeze", he whispered. Rebecca reacted fast and held his nose shut with her two fingers. Paul's sneeze ended up looking like he had a hickup, but it was silent. They were safe. Rebecca sighed. "Uh-oh." Paul looked at her, paler than ever. "Now I gotta fart..." Rebecca's eyes widened. "I am not gonna stick my finger up your butthole, are you nuts?" Paul answered desperately: "You said reach the door by all means, remember?" "... Good point", said Rebecca and held up her right hand. But it was too late. The fart fled his butthole. They were done for.

 

"Did one of you just fart?" asked Mr B. shocked. "No", exclaimed Rob and Bob shook his head vigorously. Then they all remembered what Rob had said and looked around the corner. There they were, pressed against the wall, eyes and mouths wide open. Rebecca slapped Paul. Mr B. screamed: "Guards, arrest them!" Rob and Bob looked at each other, then they turned around to face Mr B. and said: "No, we won't. We're not working for you anymore." Because they said that in perfect unison, they high-fived. "Good point", said Mr B. at the same time as Rebecca did. They stared at each other for a short while, then they high-fived. Paul slapped Rebecca. "He's the one who got us arrested, dumbass!" Rebecca nodded. "Good point." Then she strangled Mr B. to death. Rob gave them his keys - because why would he, a civilist, arrest two internationally searched criminals - and he and Bob waved them Good Bye as Paul and Rebecca fled to finish their honeymoon.

 

 

(19.+20.1.18; Marie Michelle Maerten)


A forced walk in the winter

 Für Anh, die mir den Titel für diese Kurzgeschichte lieferte. Merry christmas, meine Schneeflocke!

 

Daisy hasste den Winter. Sie hasste das Wetter, die Temperaturen, den Schnee, das Konzept der Besinnlichkeit, die auf Konsum getrimmten Kaufhäuser und Menschen, Tee, Kindern vorgaukeln, es gäbe den Weihnachtsmann, Weihnachtsfilme, kitschige Pullover, den Stress, dem alle Familienangehörigen ausgesetzt waren, die sagten, sie würden etwas zum Weihnachtsabend mitbringen. Daisy hasste es. Das bedeutete nicht, dass sie 3 Monate lang mit schlechter Laune rumlief und fröhlichen Kindern mit einem Lego-Set in der Hand ins Gesicht spuckte, sie war ja kein Monster. Sie traf sich in den kalten, verhassten Monaten immer noch mit Freunden, ging ins Kino oder gönnte sich eine kleine Shoppingtour. Aber eben ein bisschen seltener und lustloser als in den wärmeren, ruhigeren Monaten. Das einzige, was ihr wortwörtlich das Herz erwärmen konnte, war Kakao. Sie hatte schon als kleines Kind literweise von der süßen Himmlichkeit gesüffelt und da kam ihr die Obsession der Leute mit dem Heißgetränk im Winter nur gelegen. Doch was den Rest an Winter betraf: Daisy hasste ihn.

Deshalb war Daisy alles andere als erfreut, als sie plötzlich in der eisigen Winterkälte vor ihrer Haustür stand und trotz 4 Lagen aus Hemd, Sweatshirt, Pulli und Jacke sich den Arsch abfror. „Wie konnte das denn passieren?“ fragte sie sich. Folgendes war passiert: Daisy hatte sich morgens widerwillig aus dem Bett gerollt - die Bettdecke fest um die Schultern geschlungen - und war in die Küche gegangen, um sich Frühstück zu machen. Dort hatte sie dann feststellen müssen, dass etwas Essentielles fehlte: ihr Kakao! An diesem schrecklich kalten, ätzenden Wintermorgen hatte sie ein besonderes Bedürfnis danach und jetzt war die Dose einfach leer! Und eh sich Daisy versah, stand sie draußen, angetrieben von der großen Gier nach Kakao. Daisy atmete tief ein, um ihre nicht vorhandenen Kräfte zu sammeln, was sie gleich darauf bereute. Die Luft war sie eisig scharf, dass es jetzt in ihrer Nase piekte und zwickte. Daisy grub die Nase in den Schal, hielt sie zu und atmete durch den Mund. Dort, wo der Schal den Atem auffing, wurde es etwas wärmer und Daisy machte den ersten Schritt durch den Schnee, der weitesgehend zur Seite geschoben worden war. Sie bog um die Ecke und wurde beinahe von den Füßen gefegt, als der Wind ihr ins Gesicht schnitt und ihren Ohrenspitzen das Gefühl nahm. Auch ihre Beine wurden in der viel zu dünnen Hose zu zwei Eiszapfen gefroren. Daisy biss die Zähne zusammen und lief schneller, wodurch sie an einer besonders rutschigen Stelle kurz den Halt verlor, wild mit den Armen wedelte und glücklicherweise nach ein paar Sekunden wieder zum Stehen kam. Das muss echt peinlich ausgesehen haben, dachte Daisy, zum Glück ist niemand in der Nähe. Gerade als sie das dachte, hörte sie ein ersticktes Prusten. Als sie wütend aufblickte, entdeckte sie einen Obdachlosen, der in einer Nische zwischen Häuserwand und Fahrradständern saß, der sie verschmitzt ansah. Daisy beeilte sich, die Wut aus ihrem Blick verschwinden zu lassen, doch es war bereits zu spät. Das Lächeln des Mannes erstarb und er vergrub sein Gesicht in seinen Armen. Daisy, deren Schal durch den Beinahe-Sturz verrutscht war, spürte die eisige Kälte plötzlich noch viel stärker und weil sie nicht wusste, was sie sagen sollte, beeilte sie sich, weiterzugehen. Sie wollte doch nur ihren Kakao! Die nächsten Minuten verbrachte Daisy damit, wütend auf den Schnee unter ihren Füßen zu starren, während sie vergeblich versuchte, nicht durch die Nase zu atmen. So schaffte sie es relativ zügig zum Supermarkt, vor dessen verschlossener Tür sie jetzt stand. Verschlossen? Wieso? Wie kann das sein? Ganz einfach, dachte Daisy und starrte fassungslos auf das bunte Plakat vor ihrer Nase: „Wir sind am 27.12. wieder für Sie da.“ Es war Weihnachten. Heute war jeder zuhause bei seiner Familie. Jeder, außer Daisy, die durch Kakaoentzug vergessen hatte, dass heute Feiertag war. Und der Obdachlose. Bei dem Gedanken an seine frierenden Gliedmaßen, lief ein Schauer Daisys Rücken herunter. „Aaaargh“, rief sie frustiert. Ich hasse Winter, ich hasse, hasse, hasse Winter, gott, wie ich es hasse! dachte Daisy und trat wütend in einen Schneehaufen. „Scheiße!“ Der leere Parkplatz,  der durch den Schnee noch stiller und verlassener wirkte, antwortete nicht. Auf dem Rückweg machte sie einen Bogen um die rutschige Stelle mit dem Obdachlosen. Daisy fühlte sich schlecht. Sie hasste den Winter und würde diesen gezwungenen Spaziergang im Winter ewig bereuen. Und doch ging es dem Obdachlosen noch schlechter. Sie und ihr doofer Kakao. Gerade als Daisy den Schlüssel in ihr Türschloss steckte, kam ihr eine Idee.

 

Zehn Minuten später erreichte sie die rutschige Stelle. Ihre Nase war nun komplett rot und sie schniefte vor sich hin. Vorsichtig setzte sie einen Fuß vor den anderen, als sie auf den Obdachlosen zuging. Als Daisy vor ihm stand, schaute er sie verunsichert an. „Hi-hallo“, stammelte Daisy. Der Mann nickte nur, dann fiel sein Blick auf die dampfende Thermotasse, die Daisy in ihrer zitternden Hand hielt. „Ich hatte leider keinen Kakao mehr. Aber ich hoffe, Milch mit Honig schmeckt dir auch“, erklärte Daisy und hielt ihm die Tasse hin. Zögerlich streckte der Mann erst eine Hand aus, als seine Finger die Wärme der Tasse spürten, folgte schnell die andere. Er klammerte sich an die neue Wärmequelle wie ein Kind, das sein Spielzeug nicht teilen wollte. „Dankeschön“, nuschelte er und begann, breit zu grinsen. Daisy lächelte zurück und auf einmal war ihr gar nicht mehr so kalt. Auf dem Rückweg lief Daisy mit Absicht durch den aufgehäuften Schnee am Wegrand. Irgendwie genoss sie, wie er wie Bonbonpapier unter ihren Stiefeln knirschte.

 

(22.12.17; Marie Michelle Maerten)


Oasen der Großstadt

Den folgenden Text verfasste ich im Rahmen eines Schreibwettbewerbes und schaffte es sogar, dass dieser Text in einem Buch mit allen anderen Gewinnern des Wettbewerbs abgedruckt wird. (Ich habe auch eine Postkarte mit einem Autogramm von Cornelia Funke bekommen, aber wen kümmert das schon?)

 

Grün. Überall grün. Kein knalliges Neongrün, das die Aerobic-Strumpfhosen damals hatten. Eher ein ruhiges, dunkles Blattgrün im frühen Herbst. Die Wiese vor meinem Fenster hat durch die fehlenden Sonnenstrahlen ein eher trübes Grün angenommen. Auf den Gehwegen beginnen sich orange- und rotfarbene Blätter zu häufen. Ich genieße diesen Anblick und die Tatsache, dass ich im Warmen sitze. Eigentlich sollte ich mehr rausgehen. An den fehlenden Möglichkeiten kann es nicht liegen, dass ich gerade drin hocke. Vor meinem inneren Auge taucht das grüne Berlin auf. Zwar stelle ich mir auch Hochhäuser und befahrene Hauptstraßen vor, aber eben in Verbindung mit Baumalleen und Grünstreifen, Parkanlagen und bewachsenen Bergen. Ich denke an die Straße Unter den Linden, die wir dank der vielen Bäume auch im Sommer noch im Schatten entlang spazieren können. Ich denke an den Mauerpark, der an Wochenenden voller Menschen ist und man sich dennoch der Natur sehr nah fühlt. Ich denke an den Ahrensfelder Berg, den mich meine Eltern früher raugescheucht haben, um mit mir Drachen steigen zu lassen. Ich denke an den Spielplatz meiner Kindheit, hinter meinem Wohnblock, nebem den ein wunderschöner, alter Baum stand und wie wir als kleine Kinder versuchten, ihn mit der Schaukel zu erreichen. Irgendwann war er dann weg und das Schaukeln hatte ein wenig an Reiz verloren. Ich denke an mein Leben in Berlin und daran, dass ich ständig von Natur und grünen Oasen umgeben war und glücklicherweise immer noch bin. Und ich hoffe, jeden Tag aufs Neue, wenn ich das Grün dieser Stadt betrachte, dass ich mein Leben lang von Natur umgeben sein werde. Ohne das Grün vor meinem Zimmer würde ich nämlich viel seltener hier sitzen, stelle ich fest, stehe auf und schnappe mir meine Jacke vom Haken. Man, ich bin ein richtiges Stadtkind!

 

(5.12.16; Marie Michelle Maerten)


Wahnsinn

Er brüllte und schrie und schlug um sich. Er ließ alles raus und langsam dachte Pickles, er würde müde werden, doch nichts dergleichen geschah. Es schien fast so, als würde er sogar an Energie gewinnen. Er hatte jetzt vollkommen den Verstand verloren und der Wahnsinn machte sich in ihm breit. Pickles hatte gelacht und abgewunken, als Brian ihm erzählte, was passieren würde. Aber jetzt, da er es mit eigenen Augen sah, wollte er sich am liebsten für alles Böse entschuldigen, was er Brian jemals an den Kopf geworfen hatte und danach schleunigst zu seiner Mami rennen. Das ehrenhafte Vorhaben (zumindest der 1. Teil) brachte ihm jedoch wenig, da in einem Umkreis von 5 Metern um Brian niemand sicher war und er so laut schrie, dass er Brians Entschuldigung nicht hören würde. Was hatte er sich eigentlich dabei gedacht? Pickles konnte sich beim besten Willen nicht mehr erinnern, warum er ihn provoziert hatte. Doch bevor er weiter darüber nachdenken konnte, war es vorbei und Brians Körper fiel schlaff auf den Boden. "Oh scheiße", dachte Pickles mit nassem Schritt.

 

(14.10.16; Marie Michelle Maerten)


Liebe

In einer milden Sommernacht geschah es: ich verliebte mich. Die letzten Sonnenstrahlen waren gerade hinter dem Horizont verschwunden und der Wind hob sich langsam und ließ das Grün an den Bäumen rascheln. Wir waren ganz allein auf der Lichtung, die weit entfernt von Autolärm und Zivilisation lag. Nur die Vögel zwitscherten um die Wette in ihrem Versteck in den Baumkronen. Wir schwiegen schon eine ganze Weile. Aber es war kein betretenes, unbehagliches Schweigen. Es war ein zufriedenes Schweigen, als wäre schon alles gesagt.Hätten wir weiter geredet, wäre nichts daraus entstanden. Aber wir nebeneinander saßen und schwiegen, bemerkte ich, wie nah er mir war und ich verliebte mich.

 

(6.10.16; Marie Michelle Maerten)


Elfe Franny

 

Ich war schon immer ein Fan von Märchen und Geschichten gewesen. Besonders Peter Pan hatte mich sehr eingenommen. Vielleicht war ich deshalb nicht so überrascht, wie man eigentlich sein sollte, als eines Abends eine kleine Elfe auf meiner Schreibtischlampe saß. Ich bemerkte sie sogar erst gar nicht. Ich war so in meine Hausaufgaben vertieft, dass ich erst zu ihr aufsah, als plötzlich Glitzer auf meinen Taschenrechner fiel. Wie gesagt, ich sprang nicht ungläubig vom Stuhl und fing an, wie am Spieß zu schreien. Das einzige, was geschah, war, dass sich meine Augen ungläubig weiteten und mein Mund offen stand. Vielleicht kann man das Fallen lassen des Stiftes auch noch dazu zählen, aber ich würde das eher auf meine steigende Müdigkeit schieben. Also saß ein Elfe auf meiner Schreibtischlampe. Woran ich das erkannte? Na an den spitzen Ohren und den kleinen, glitzernden Flügeln natürlich, die einen rosa silbernen Schimmer hatten. Abgesehen davon sah das Wesen eher weniger wie eine Elfe aus. Ihre Haare waren lila und pink, an manchen Stellen auch Sonnenaufgangsrot gefärbt. Vielleicht war das auch ihre Naturhaarfarbe, bei Elfen kann man ja nie wissen Sie trug einen pinken Rock und eine pinke Regenjacke. Überall hatte sie bunte, glitzernde Accesoires wie Ketten, Armreifen, Ohrringe und war mit glitzerndem Lidschatten und Highlighter geschminkt. Sie trug schwarze, lederne Boots, die mich sehr an meine eigenen erinnerten. Sie kam mir gleich viel sympathischer vor. Wahrscheinlich kam mir deshalb unterbewusst ein Name in den Sinn und aus meinem Mund schlüpfte ein "Tinkerbell..." heraus. Die kleine Elfe, die bis eben schweigend da saß und mich anschaute, bekam plötzlich einen wütenden Gesichtsausdruck. Ihre Flügelchen begannen aufgeregt zu flattern und sie flog mir 2 cm vors Gesicht. "Wie bitte?" rief sie wütend mit einer tiefen Stimme, die ich bei einer Elfe niemals erwartet hätte. "Seh ich etwa aus wie Tinkerbell??? Du hast die geilste Elfe vor dir sitzen, rastest nicht mal im geringsten aus - worauf ich mich insgeheim gefreut hatte - und dann kommst du mir mit Tinkerbell?" Die Elfe schwirrte wütend vor mir herum. "Dieser blöde J.M. Barrie mit seinem Peter Pan und der wunderschönen, süßen Tinkerbell, die ihm aus der Patsche hilft. Mein Gott, ist das echt die einzige Elfe, die du kennst, Menschenwesen?! Denk doch mal nach! Als ob dich auf einmal Tinkerbell aus einem Kindermärchen besuchen kommt." Als sie nichts sagte, fragte ich: "Also ist Tinkerbell nur erfunden?" "Natürlich ist Tinkerbell NICHT nur erfunden, dummes Kind. Sie gilt in unserem Volk als die schönste und gütigste Elfe. Das ist auch der Grund gewesen, warum Barrie sie als Gefährtin für Peter Pan ausgewählt hatte." "Also ist Peter Pan auch echt?!" fragte ich hoffnungsvoll. Die Elfe sah mich ungläubig an. "Lebst du hinterm Mond oder was? Peter Pan hat es nie gegeben! Er ist nur ein Synonym für Barrie und seinen Wunsch, nie älter zu werden. Hat nur nicht so gut geklappt, das mit dem für immer jung bleiben." Die Elfe lachte kurz und hoch. Ich fasste zsm: "Ok, also Tinkerbell ist echt, Peter Pan nicht und Barrie hatte Angst vorm Sterben." "Exakt, Menschenwesen!" Die immer noch namenlose Elfe streckte den Daumen in die Höhe und grinste schief. "Und wie heißt du jetzt?" Ihr Grinsen wurde breiter. Sie stellte sich breitbeinig wieder auf die Schreibtischlampe und stemmte die Hände in die Hüften. Mit theatralischer Geste verbeugte sie sich. "Mein Name... ist Franny!!!" Schweigen. Die Elfe namens Franny hob dem Kopf gerade so hoch, dass sie mich wütend unter ihrem Pony hervor anblitzen konnte. Ich wusste nicht wirklich, was sie von mir wollte, also klatschte ich zwei mal in die Hände. Sie schien zufrieden.

 

(14.11.16; Marie Michelle Maerten)


Dystopia

Hannah supressed a smile. If she smiled now, her disguise would be gone in a nanosecond. Cyborgs didn't need longer to recognize the crack in the surface that would identify her as a human. "Stupid me" Hannah thought, "always living on the edge... Never learning from mistakes!" The last time she had used the hoverbus to work, her head nearly got cut off. But what was left to humans when Cyborgs had taken every area of the metaphorical plate to themselves? Living on the edges of the plate. Or beneath it where Cyborgs couldn't see you. Many families had been killed during the evolution of Cyborgs. But some survived and took shelter underground. One of those families was Hannahs. The Cyborgs seemed ok with that and let them be. But if a human is seen overground outside of his work place, Cyborgs don't hold back and kill you right on the spot. If you show that you're human. If not, things might work out. That's what Hannah always tells her Grampa when she goes to the surface again. "Things might work out." Of course, Grampa has never agreed once and this time wasn't an exception. "They'll kill you for driving the hoverbus!" he'd said. "Oh they kill you for less, Grampa", Hannah had answered and left. And now she was standing right next to at least 20 Cyborgs pressed against the window of the hoverbus. There was no escape. "Great, you fool!" she thought to herself, "only you would have the plan to take the hoverbus to work and not look out for emergency exits! How stupid are you, Hannah? Has your momma taught you nothing?" Oh, there it was. The propensity to self-destruction. As if not showing any feelings wasn't hard enough, Hannah had now build up a rage inside of her that would not stay inside for much longer. Every time she thought about her mother, she became angry again. Angry at the Cyborg that had seen her beautiful smile and killed her. Angry at her father for rather saving her and her grampa than furiously destroying the Cyborg. Angry at herself for believing, her slim father could have had the power to kill a Cyborg. No one has that power. Except for the inventor of those demons, but he was the first one they had killed. They weren't stupid. They just weren't human either and that's why humans hate and fear them. "Next station: Southern Gardens" Hannah kept breathing reguarly and stood up as monotone as possible. While moving towards the doors, she tried not to touch any Cyborg. Obviously, the girl with a storm-like rage inside of her failed at trying. She stepped on the foot of a Cyborg. Suddenly, she heard the little engines inside the Cyborgs' heads rotate. She could feel that all eyes were pointed at her. Hannah tried to organize her thoughts. "Ok. What's important now? What did Grampa tell me? Breathe. Wait for the command Cyborgs would get, then move. Speak fluently and politely." So she took a breath in and out, tried to look as if her brain computer gave her a command, looked the Cyborg in the eyes and said: "Please excuse me, Sir. It is very crouded in here, so I did not see your feet. Please let me apologize... Formally..." Hannah demanded her heartbeat to slow down. "No one heard that little pause. They won't find out. Stay still, stay still!" she thought. Even though it was only a nanosecond, it felt like a century before the Cyborg answered: "No problem, Miss. It did not hurt. My sensors are all intact. Good day." Hannah nodded, stepped outside of the bus and breathed. She was safe. "But that guy... Was he...?" She didn't think further, because a group of Cyborgs walked around the edge towards her. Her facial expression went blank in an instant and she concentrated on walking the other direction with a stick in her butt, as Grampa would call it. Grampa may seem to be against her wandering around overground, but in the end, he gave her useful advice that had saved her life more than once. After a while she turned into an alley. She waited 10 seconds to make sure no Cyborg was around. Then she let it all out. She screamed furiously and got louder and louder. She began throwing stones against the housewall. She wanted her mother back... Soon, her anger became smaller and the litte voice inside her head became bigger that told her to not throw something against a wall of a Cyborg's home and to not scream in a silent alley where every Cyborg in a range of 10 meters could hear her. Therefore, she began to cry, which was much more silent. She sat down next to a dumpster and leaned her head against the wall. Tears came running down her face and she was sobbing uncontrollably. Due to the paranoia that humans had developed during the past years, she looked around her to check if she was still alone. Unfortunately, the answer was no. The answer had been no all along and now Hannah was staring into the face of a Cyborg that sat to her left right next to the dumpster. Of course, the whole situation was wrong, but something didn't seem right, thought Hannah. And then the shock vanished and she realized it: The Cyborg was smiling.

 

(1.10.16; Marie Michelle Maerten)

P.S. I now know that Cyborgs are normally a mixture between human and robot, but in this case, my Cyborgs are 100% robot. ;)


Der kleine Schmetterling

 

Es war einmal ein kleiner Schmetterling, frohlockend und wohlauf. Munter breitete er jeden Tag seine Flügel aus und es machte ihm so viel Spaß, dass er jeden seiner Freunde dran teilhaben ließ. Er konnte sich nicht vorstellen, jemals ohne seine Flügel auskommen zu müssen. Und doch kam der Tag. Er kam nicht plötzlich, wie ein Schlag ins Gesicht, aber der Schmetterling bemerkte jeden Tag mehr, wie seine Flügel schwächer wurden. Er konnte Tag für Tag immer seltener fliegen, da seine Flügel langsam klitzekleine Risse bekamen. Und mit jedem Tag, den er weniger mit Fliegen verbrachte, wurde der kleine Schmetterling trauriger und lustloser. Er wusste, dass er das, was ihm so lieb und teuer war, nicht mehr tun konnte und dass er seinen Freunden, die ihm so lieb und teuer waren, nicht mehr so viel Spaß bereiten konnte. Seine Verzweiflung wuchs und wuchs und er wurde so verzweifelt, dass er all das Unglück seiner Freunde auf sich nahm und sich sagte, dass er dran schuld sei. Dabei wussten und akzeptierten seine Freunde, dass er nichts dafür konnte. Es waren doch seine Flügel, die zerrissen und nicht er selbst. Und selbst seine Flügel waren nicht schuld, denn sie zerrissen sicherlich nicht freiwillig. Das erzählten ihm seine Freunde, als sie sahen, wie die Verzweiflung und Trauer ihm jegliche Kraft nahmen. Und der kleine Schmetterling hörte aufmerksam zu, wollte alles glauben, was seine Freunde, die ihm lieb und teuer waren, erzählten. Aber jedes Mal, wenn er seine Flügel sah, wurde er wieder traurig und dachte an all das, was er nicht tun konnte und was er aber so gern tun würde. Und dann, eines Tages, fielen seine Flügel von ihm ab. Und mit ihnen fiel jegliche Schuld, die er aufgenommen hatte, um seine Freunde zu entlasten. Sofort wurde ihm bewusst, dass seine Freunde Recht hatten. Niemand war schuld an dem, was passiert war. Nicht seine Freunde, nicht seine Flügel und ganz bestimmt nicht er selbst. Er hatte sein bestes gegeben und es bis zum Ende versucht und nun, da es vorbei und nie mehr rückgängig zu machen war, konnte der kleine Schmetterling es akzeptieren und machte sich gleich daran, sich neue Arten und Weisen auszudenken, seinen Freunden Spaß zu bereiten.

(25.01.16; Marie Michelle Maerten; für Lui)


Verlangen

Sie verspürte das tiefe Verlangen, das ihr nur allzu vertraut war, schon seit längerem. Und in jeder Sekunde, in der sie es nicht stillte, fragte sie sich: "Wieso eigentlich nicht?" Sie wusste, dass sie es liebte, dass sie es konnte, dass sie es wollte. Und doch tat sie es nicht. Ihre unendliche Kreativität, die ihr Verlangen noch verstärkte, half ihr dabei, sich davor zu drücken. Vor ihrem Traum, vor dem Gefühl vollkommener Zufriedenheit. "Wieso eigentlich?", fragte sie sich immer wieder. Das Verlangen wuchs und wuchs und sie wusste, dass sie es stillen musste, dass sie es stillen wollte. Also tat sie es. Sie tat endlich wieder, was sie liebte, was sie wollte, was sie konnte. All ihre Kreativität schoss aus ihr heraus. Und dann fragte sie sich: "Warum hast du dich dem schon nicht eher hingegeben?" Sie wusste es nicht. Denn als sie fertig war, betrachtete sie stolz ihr Werk. Sie war zufrieden, denn sie hatte das getan, was sie liebte, konnte, wollte: schreiben...

 

(11.04.16; Marie Michelle Maerten)


Kritik

Der Mann stand einfach nur da und rieb sich seinen Bart. So, wie er es kurz zuvor in den vielen Büchern über Kritik gelesen hatte, an denen er sich anlehnte. Er hatte alles wichtige abgeschrieben und sich sogar diese zwei blöden Plapper-Papageien gekauft, die angeblich das Gefühl von einem Engel und einem Teufel auf den Schultern vermitteln sollten. Aber mit dem Kritik geben wollte es noch nicht so recht klappen. "Tut mir leid, mein Freund", sagte der Mann bald, "aber mir fällt nichts ein." Sein Freund, der gepunktete Fliegen-Fisch, breitete seine Flügel noch weiter aus und spannte die Brust noch stärker an. "Na los, Kumpel! Horch in dich rein! Lass deine Sinne stimuliert werden!" rief der gepunktete Fliegen-Fisch. Der Mann nickte und horchte in sich rein. In ihm drin begann der linke Plapper-Papagei zu reden: "Schau, seine Flügel! So weit! Und diese Punkte! So rund! Toll!" Da meldete sich der rechte Plapper-Papagei zu Wort: "Schau, seine Flügel! So weit! Und seine Punkte! So rund! Ekelhaft!" Das klang logisch und der Mann begriff. Er klatschte in die Hände und rief: "Mein Freund, deine Flügel! So weit! Und diese Punkte! So rund!" Sein Freund, der gepunktete Fliegen-Fisch hörte aufmerksam zu. Und dann verbeugte er sich und sagte: "Danke, Kumpel! Meinen besten Dank!" Der Mann nickte zufrieden und dachte sich im Stillen: "Das ist Kritik. Wenn der Kritisierte entscheiden kann, ob er daraus lernen will oder nicht."

 

(15.03.16; Marie Michelle Maerten)


Liebe

Er saß neben ihr und sie kraulte seinen Nacken, ihre Beine lagen über seinen. Er unterhielt sich mit seinen Kumpels, schenkte ihr aber mehr Aufmerksamkeit, fand sie. Er wollte aufstehen, also nahm er sie hoch und ließ sie nach hinten auf das Sofa fallen. Dabei stoß sie einen hohen, kurzen Schrei aus, der sein Herz stolpern ließ. In diesem Moment erinnerte er sich, wie sie sich ineinander verliebt hatten... Er drehte sich zu ihr um, deren Blick von seinem Hintern in seine eisblauen Augen wechselte. So standen sie ein paar Sekunden da, bis er sich über sie beugte und ihr sanft einen Kuss gab. Er wusste, selbst als seine Augen noch geschlossen waren, dass sie grinste. Und er grinste auch. "Ich liebe dich", flüsterte sie ihm ins Ohr. "Ich dich auch", nuschelte er und versank wieder in ihren Lippen. Langsam legter er sich neben sie und nahm sie schützend in den Arm. Der Grund, warum er eigentlich aufgestanden war, war in den Hintergrund geraten. Er sah nur noch sie. Und sie küsste ihn.

 

(17.11.13; Marie Michelle Maerten)


Hölle

Sobald ich also meine Augen schloss, begann die Welt um mich herum ihrer selbst nicht mehr Herr zu sein. Flüsse erhoben sich in den schwarzen Himmel, der mit grauen, unheilvollen Wolken behangen war. Häuser verschlangen sich gegenseitig und wuchsen dadurch in eine gewaltige Höhe, die nur durch die Bäume, die ihre Wurzeln über alles legten, was ihnen in die Quere kam, übertroffen wurde. Mensch wie Tier erfuhren eine unsagbar schmerzhafte Angst, die sie mit panischem Geschrei und stolperndem Gang bekräftigten, bis sie sich wie durch Geisterhand in die Luft begaben und plötzlich ganz verschwanden. Langsam und wie in Zeitlupe erhob ich meine Augenlider und ließ meine Augen eine Welt sehen, wie sie noch nie gesehen wurde. Dann öffnete ich meine schwarzen, vom Tod gefärbten Flügel und entschwand in die Hölle... Ich hatte meinen Auftrag mit Sorgfalt erfüllt.

 

(29.10.13; Marie Michelle Maerten)

(Zeichnung von Franziska Reiter)


Detektiv

Carter betrat den staubigen Raum. Die Energiesparlampe, die an der Decke hing, bot nicht genug Licht, um auch die Ecken des winzigen Raumes zu erhellen. Sein berühmtes Bauchgefühl veranlasste ihn, die Wände abzutasten und die Ecken auf mögliche Fallen abzusuchen. Sein Partner, der immer noch da stand, wo er hereingekommen war, stellte fest: "Es ist wohl lange keiner mehr hier gewesen."

Carter blickte nicht auf, als er mit ihm sprach.

"Was für'n Superheld warst du nochmal?"

"Ich bin Geheimagent der VIZ. Ich wurde von Professor Q. höchstpersönlich für diesen Fall ausgebildet."

"Ah ja, richtig!" Nun fiel es ihm auch wieder auch.

"Nun, mein Freund. Lass mich dir etwas erzählen." Carter setzte sich auf einen der hölzernen Stühle, die am runden Tisch standen, der fast den ganzen Raum einnahm. "Dein werter, imaginärer Professor war wohl nicht der Hellste auf seinem Gebiet. Erstens: Auf diesem riesigen Tisch steht ein Aschenbecher in der Mitte, in dem mehrere Zigarettenstummel liegen. Und schau! Eine Zigarette qualmt sogar noch! Es war also sehr wohl vor kurzem jemand hier gewesen. Zweitens: So stark diese Zigarette auch stinken mag", Carter erhob sich langsam,"der Rauch überdeckt leider noch nicht ganz das liebliche Parfüm in der Luft. Es war also nicht nur einer vor kurzem hier gewesen. Er ist es immer noch jemand da... Oder sollte ich lieber sagen... sie?"

Wie auf Kommando sprang plötzlich eine in schwarz gekleidete Frau mit fliegendem Pferdeschwanz und gezogenen Messern vom Dachbalken auf den Tisch. Carter stand nun eingeengt in einer Ecke.

Er sagte: "Drittens..."

Die Frau mit dem lieblichen Parfüm und den gezückten Messern schnitt ihm das Wort ab. "Klappe, du Penner. Wir haben's kapiert!"

Carter schaute sie mit erhobenen Händen und einem fragenden Gesicht an. "Komm schon. Die 30 Sekunden machen jetzt auch keinen Unterschied mehr." Sie seufzte und zuckte nur genervt mit den Schultern.

"Drittens", fuhr Carter fort, "sollte man nie seine ganze geheime Identität preisgeben, wenn ein Feind gerade im Raum ist. Jetzt besteht die Gefahr, dass sie dich schnappen, nachdem wir hier entkommen sind", sagte er mit vorwurfsvollem Blick zu seinem Partner. Dieser grinste nur breit und sagte ruhig: "Hör mal zu, alter Mann. Lass es mich erklären. Meine nicht mehr so geheime Identität war nicht geheim, sondern eine Tarnung. Meine wirkliche geheime Identität wirst du wohl nie erfahren, aber ich denke, du bist ein weiser, alter Mann und kannst dir denken, dass ich sicherlich nicht auf deiner Seite bin. Oh, und noch was!" Er kam näher und zog seine Waffe. "Du wirst nicht entkommen."

Da begann Carter zu lachen und rief: "BRILLIANT!"

 

(16.10.2015; Marie Michelle Maerten)


Wald

Wald. Ich sah nur Wald. Wo bin ich, fragte ich mich. Wer bin ich? Ich fühle mich klein und unbedeutend... denkt gerade jemand an mich? Werde ich vermisst? Kennt mich überhaupt jemand? Ich weiß es nicht, aber wenn ich hier weiter stehen bleibe, werde ich es nie erfahren. Also setzte ich einen Fuß vor den anderen, setzte sie behutsam auf den morschen, knackenden Waldboden. Nach einer kleinen Ewigkeit hielt ich an. Wohin laufe ich eigentlich?  wohin will ich laufen? Wohin sollte ich laufen? Ich drehte mich einmal im Kreis, drehte mich schneller und ließ die umstehenden Bäume ineinander verschmelzen. Wie eine grüne Mauer umschlossen sie mich. So, als würden sie mir sagen wollen, dass ich gefangen war. Für immer. Nur ich. Und die Stille. Eine tiefe, drohende Stille, die sich um die Umgebung legte und mich langsam verschlang. Bitte Ohren, lasst mich etwas hören. Lasst mich wissen, dass ich noch lebe. Ich bekam Panik. Egal, wohin. Ich wollte einfach nur weg. Überall würde es besser sein als hier, dachte ich. Und deshalb rammte ich meine Füße in den knackenden Untergrund, in dem ich drohte, zu versinken. Äste brachen, Sand knirschte und eine Krähe schlug mit ihren Flügeln, dass der ganze Wald es zu hören bekam. Ich hörte es auch. Also lebe ich. Und jetzt? Nach einer langen Strecke, in der ich keuchte und schnaubte und rannte, stolperte ich über meine eigenen, wunden Füße. Ich fiel, meine Knie schlürften über den Boden und meine Hände landeten auf hartem Kies. So blieb ich liegen und fragte mich: Ist es besser so?

 

( 07.09.2013; Marie Michelle Maerten)